Abbau von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Medien 2010-2019
Zusammenfassung
Dieser Bericht wurde von unabhängigen ungarischen Intellektuellen erstellt, um die ungarische und internationale Öffentlichkeit sowie die europäischen Institutionen darüber in Kenntnis zu setzten, welche gravierende Schäden die Regierungen Orbáns seit 2010 auf dem Gebiet der Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien verursacht haben.
Unser Bericht wurde durch den Umstand motiviert, dass die seit 2010 herrschenden Orbán-Regierungen die Grundsätze, Werte und Normen der Europäischen Union systematisch und bewusst verletzen, und zwar nicht nur bezüglich der Rechtsstaatlichkeit sowie der politischen und sozialen Grundrechte, sondern auch auf allen relevanten Gebieten der Kultur. In Ungarn werden alle wichtigen europäischen Werte regelmäßig massiv verletzt: Schutz der Menschenwürde, Zugang zur Bildung und Kultur für alle, Recht auf gesellschaftliche Mobilität, Integration benachteiligter Gesellschaftsgruppen, kulturelle Vielfalt, Schutz des Kulturerbes, Presse- und Meinungsfreiheit, Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Autonomie der Wissenschaft und Kunst, fundamentale Normen demokratischer Politik wie z.B. gesellschaftlicher Dialog, Transparenz und Subsidiarität
Unsere Darstellung der kulturellen, schul-, wissenschafts- und medienpolitischen Tätigkeit der Orbán-Regierung soll über Bereiche informieren, die der internationalen Öffentlichkeit nur teilweise bekannt sind. Der Bericht soll darauf aufmerksam machen, dass in Ungarn mit politischer Unterstützung von EU-Institutionen und kräftig finanziert durch das Geld der Steuerzahler der EU ein autokratisches System entstanden ist, das sich inzwischen weitgehend verfestigt hat. Dieses System weist demokratische Defizite alarmierenden Ausmaßes auf und erzeugt somit nicht nur schwerwiegende gesellschaftliche Probleme, sondern verursacht auch irreparable Schäden auf allen Gebieten der Kultur.
Die Verfasser und Verfasserinnen dieses Berichts sind renommierte Wissenschaftler/Wissenschaftlerinnen, Dozenten/Dozentinnen und Experten/Expertinnen auf den jeweiligen Fachgebieten, darunter mehrere Professoren/Professorinnen und auch ein ehemaliger Kulturminister. Das Projekt, das diesem Bericht zugrunde liegt, wurde vom ungarischen Dozentennetzwerk (OHA) initiiert und koordiniert
Kulturpolitik
Unser Bericht belegt, dass im Orbán-Regime Kultur nur dann für relevant gehalten wird, wenn sie als geeignetes Mittel zum Erreichen bestimmter politischer Ziele gesehen wird. Ein treffendes Beispiel für das merkwürdige Kulturverständnis der Regierung ist auch die Tatsache, dass Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend, Sport, Kultur, Wissenschaft und Erziehung zu einem einzigen Ministerium zusammengefasst worden sind (Ministerium für Humanressourcen).
Die Prozesse, die auf den unterschiedlichsten Gebieten der ungarischen Kultur (Kultur verstanden hier in einem weiten Sinne) ablaufen, weisen zahlreiche Parallelen auf. Auf jedem Gebiet fand im vergangenen Jahrzehnt eine außerordentlich starke Zentralisierung statt, wenngleich diese zum Teil jeweils unterschiedlich ausgefallen ist.
Zum einen werden die politischen Interessen der Zentralmacht gerne mit Hilfe einer radikalen Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse durchgesetzt: Gewisse kurzfristige politische Ziele der Regierung lassen sich allem Anschein nach besser durch eine Wiederverstaatlichung verwirklichen. Die Verstaatlichung von Schulen, die nach der Wende kommunal geführt wurden, dürfte hierfür ein gutes Beispiel darstellen. In anderen Fällen mischt sich die Regierung in den privaten Markt ein. Sie unterstützt komplizierte Geschäftstransaktionen von loyalen Oligarchen (z.B. beim Aufkauf von oppositionellen Medien, um diese so auf die Regierungslinie zu bringen) oder sie privatisiert staatliche Institutionen oder lagert diese in Stiftungen aus (z.B. im Hochschulbereich). Neben Verstaatlichung gehört das Outsourcen von öffentlichen kulturellen Aufgaben zu den besonders beliebten Vorgehensweisen des Orbán-Regimes. Auf dem Bildungssektor z.B. kommt hierbei den anerkannten Kirchen eine immer wichtigere Rolle zu.
Die Organisation kultureller Einrichtung lässt sich – neben der Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse – generell durch eine übertriebene Zentralisierung und eine unverkennbare Tendenz zur „manuellen Kontrolle“ charakterisieren, bei der Entscheidungen, selbst bei den unwichtigsten Fragen, jeweils auf höchster Staatsebene getroffen werden. Dies hat natürlich irrationale Folgen und führt nicht selten zu einem funktionalen Kollaps. Die Konsequenzen der Kombination aus extremer Zentralisierung einerseits und Dilettantismus andererseits sind also chaotische Verhältnisse. Das Orbán-Regime hat keine Experten für Kulturpolitik mit klaren Vorstellungen darüber, welche Rolle der Staat bei der Aufrechterhaltung und Entwicklung von Kultur einnehmen sollte, welche Bedeutung dieser Rolle zukommen sollte und wo die Grenzen dieser Rolle liegen. Somit fehlen auch Spezialisten in der Orbán-Regierung, die verstehen würden, wie wichtig die Erhaltung von autonomen Organisationen besonders in dem kulturellen Sektor ist.
In der ungarischen Regierung wird jeder kulturelle Aspekt durch die politische Brille betrachtet. So wird die Autonomie, die auf manchen Gebieten der Kultur erkämpft wurde, wieder zunichtegemacht. In der Orbánschen Kulturpolitik werden auch die spezifischen Charakteristika der einzelnen Kulturgebiete wenig beachtet. Was einzig und allein zählt, ist die Frage, ob die auf diesen Gebieten tätigen Fachleute und Künstler loyal zu Fidesz bzw. zur Regierung sind. Ebenso wie in allen anderen Bereichen wird auch bei der Kultur der gesellschaftliche und fachliche Dialog bei Entscheidungsprozessen stark behindert. Die Konsequenzen eines solchen Mangels an Dialog liegen auf der Hand: Es werden wiederholt unüberlegte Entscheidungen getroffen, die nur den Interessen von Personen bzw. Gruppen dienen, die dem Regierungschef nahestehen, für die Allgemeinheit jedoch nur Nachteile und chaotische Verhältnisse mit sich bringen.
Orbáns Verhältnis zur Kultur ist nicht konservativ, sondern lässt sich als radikal umgestaltend und neuinterpretierend beschreiben. Charakteristisch für seine voluntaristische Politik ist die deutliche Tendenz, immer wieder neue Institutionen zu gründen, wenn sich ihm die vorhandenen, relativ autonomen Institutionen bei der Machterhaltung als nicht nützlich erweisen. Die vorhandenen staatlichen Förderungen fließen danach in die Neugründungen.
Symbolische Politik
Bei der Aufrechterhaltung des Orbán-Regimes spielt die sog. „symbolische Politik“ eine Schlüsselrolle. Im Fokus dieser symbolischen Politik steht die nationale Zusammengehörigkeit; das Streben nach Wiedervereinigung aller ethnischen Ungarn über Staatsgrenzen hinweg und nach einer Mittelmachtrolle im Karpatenbecken wird im Orbán-Regime auch symbolisch begründet. Die offizielle Nationalpolitik betrachtet die ungarischen Minderheiten, die in den Nachbarstaaten leben und seit dem Friedensvertrag von Trianon (1920) deren Staatsbürger sind, als „Teile des Nationalkörpers“. In diesem Sinn verfolgt die ungarische Regierung sowohl mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz, das jedem ethnischen Ungar im Ausland die ungarische Staatsbürgerschaft einräumt, als auch mit den staatlichen Subventionen an ungarische Institutionen in den Nachbarländern klare innen- und außenpolitische Ziele.
Das Regime lässt sich durch eine skrupellose Ausbeutung von nationalen Symbolen und die Sakralisierung von Macht charakterisieren. Der Regierungsdiskurs definiert nationale Zusammengehörigkeit anhand von Ethnizität bzw. aufgrund der „Blutlinie“ und bedient sich dabei frühgeschichtlicher Symbole und Legenden. Gleichzeitig wird die Opposition aus der Nation ausgegrenzt und als Feind und Diener fremder Interessen diffamiert.
In der offiziellen Regierungskommunikation bemüht man sich nach Kräften, die psychotische Mischung aus Bedrohung und Angst kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Ähnlich zu der üblichen Praxis in totalitären Diktaturen spielen auch in der Partei-PR von Fidesz Plakate und Flyers mit wiederkehrenden und vereinfachenden Botschaften eine wichtige Rolle. Die Propagandisten von Fidesz bedienen sich einer breiten Palette von sprachlichen Mitteln, um den öffentlichen Diskurs zu besetzen: angefangen von der Überflutung der Alltagssprache mit militärischen Ausdrücken über pathetische Metaphern und eigenwillige Neubildungen bis zur Dehumanisierung der politischen Gegner. Diese Mittel der sprachlichen Propaganda wurden auch in den Hasskampagnen gegen Flüchtlinge, Brüssel und George Soros eingesetzt. Orbáns Reden und die Regierungsmitteilungen enthalten in der Regel maßlos übertriebene Beschuldigungen gegen die jeweils aktuellen Feinde, denen üblicherweise die Teilnahme an einer globalen Verschwörung gegen die Nation vorgeworfen wird. Kritische Intellektuelle werden also nicht nur mit administrativen Schikanen bekämpft, sondern auch mit den üblichen Propagandamitteln der symbolischen Politik. Bestimmte Gruppen von Intellektuellen und nichtstaatliche Organisationen werden in den regierungsnahen Medien mit schöner Regelmäßigkeit angegriffen.
Diese allumfassende Propaganda der symbolischen Politik soll vor allem die Loyalität von Gruppen auf den unteren Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie sichern. Gleichzeitig wachsen jedoch die sozialen Ungleichheiten immer rasanter. Bei wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen werden nur die Interessen des Mittelstandes berücksichtigt, die Bedürfnisse von benachteiligten Gruppen werden nicht einmal wahrgenommen. Sozial benachteiligte, arme oder behinderte Menschen werden nicht nur bei der staatlichen Umverteilung vernachlässigt, sie werden sogar verachtet. Diese Regierung hat die elementaren Formen der Solidarität aufgegeben.
Die Orbán-Regierung hat auch die Kirchen in seinen Kulturkampf eingebunden, in den Dienst einer ideologischen Umerziehung. Religion wird zur Legitimierung der eigenen Macht missbraucht. Sie soll die Zeitlosigkeit und Unantastbarkeit dieser Macht begründen und rechtfertigen.
Grund- und Sekundarschulwesen
Die Orbán-Regierung hat mit ihrer zentralistisch motivierten Politik auch dem öffentlichen Bildungssystem enorme Schäden zugefügt. Nicht nur wurden den öffentlichen Schulen die notwendigen Ressourcen weitgehend entzogen, auch die zahlreichen eigenwilligen und unüberlegten Eingriffe in das Schulwesen gefährden nachhaltig das Funktionieren des öffentlichen Bildungswesens. Das gegenwärtige Schulsystem ist nicht darauf ausgerichtet, für eine moderne wissensbasierte Gesellschaft eine interessierte und zukunftsorientierte Jugend mit vielseitigen Kompetenz en zu erziehen. Nach 2010 wurden alle Schulen, die bis dahin unter Kommunalverwaltung standen, wieder verstaatlicht und einer zentralen Organisation, dem direkt vom Minister für Humanressourcen (EMMI) geleiteten Klebelsberg-Zentrum (KLIK) untergeordnet.
Danach wurden unter zentraler Leitung zahlreiche autoritäre Entscheidungen getroffen, die die Rechte von Lehrkräften, Schülern und Eltern erheblich einschränken, und letztendlich zur Abschaffung von jeglichen Beratungsgremien und Koordinierungsforen im schulischen Bereich führten. Zu den zentralen Maßnahmen der Regierung gehört auch die Einführung eines obligatorischen Rahmenlehrplans, der die Autonomie der Lehrer erheblich einschränkt. Auch der Markt für Schulbücher wurde faktisch aufgelöst. Die Schulen sind nicht mehr in der Lage, sinnvolle pädagogische Strategien zu entwickeln, um Kinder nach ihren Begabungen und Möglichkeiten optimal zu fördern. Die staatlichen Eingriffe in den Lehrplan zielen auf die Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen mit veralteten, konservativen Inhalten ab.
Obwohl als offizielles Ziel der Maßnahmen Chancengleichheit angegeben wurde, hat sich – z.B. laut PISA-Studien – die Kluft zwischen Schülern/Schülerinnen aus unterschiedlichen sozialen Schichten sowie aus Wohnorten mit unterschiedlichen Versorgungsniveaus weiter vertieft. Es gibt eine Reihe von weiteren Maßnahmen, die die Bildungsbenachteiligung von abgehängten Kindern und Jugendlichen noch weiter verstärken werden: Die Schulpflicht wurde von 12 auf 10 Jahre verkürzt, sodass Schulpflicht nur noch bis zum 16. Lebensjahr besteht. Die vorhandenen Programme gegen Segregation wurden gestoppt; demgegenüber erhalten kirchliche Schulen, die die Segregation eher fördern, vermehrt finanzielle Unterstützung. In Fachschulen wurde die Unterrichtszeit für Fächer der Allgemeinbildung drastisch reduziert.
Insgesamt führten die Regierungsmaßnahmen jedoch dazu, dass in den Schulen der Unterrichtsstoff vergrößert und die Unterrichtszeit verlängert wurde. So erhöhte sich auch das Lehrdeputat der Lehrer, die nun auch noch mit zusätzlichen administrativen Aufgaben zu kämpfen haben. Sowohl Schüler als auch Lehrer haben in zahlreichen Demonstrationen gegen die Mehrbelastung protestiert.
Hochschulbildung
Das Orbán-Regime ist misstrauisch gegenüber den Universitäten, wie es auch generell Misstrauen und Skepsis gegenüber den Intellektuellen des Landes hegt. Dabei unterschätzt es die gesellschaftliche Bedeutung des Wissens und des freien Lernens und missachtet fundamentale europäische Werte wie Forschungs- und Bildungsfreiheit. Die Universitäten werden in finanzieller und politischer Abhängigkeit gehalten und zu gehorsamen Handlangern der Regierung degradiert. Die Regierung verwaltet und kontrolliert die Universitäten mit Hilfe der von Orbán ernannten Kanzlern, die dem Rektor, wenn auch nicht de jure, aber de facto übergestellt sind, und versucht auf diese Weise die Autonomie der Universitäten kontinuierlich zu beschneiden. Das Misstrauen gegenüber der Wissenselite zeigt sich auch in der von oben verordneten kontinuierlichen Reduzierung der zugelassenen Studienplätze. Auf diese Weise nimmt die Anzahl der Studierenden in Ungarn stetig ab, ganz im Gegensatz zu der internationalen bzw. europäischen Entwicklung. Die Verringerung der Studienplätze geht vor allem zu Lasten sozial benachteiligter Jugendlicher, denen so der Zugang zum Studium verwehrt wird.
Die Regierung versucht, Hochschulaktivitäten insbesondere im Bereich der Geisteswissenschaften, die ihr gefährlich für die eigene Macht scheinen, durch eine Reihe weiterer Maßnahmen zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Für bestimmte Fächer werden Studiengebühren eingeführt, andere Fächer werden gleich ganz abgeschafft. Es werden neue regierungsnahe Institutionen gegründet, vorhandene Institutionen werden mit Hilfe rechtlicher Tricks geschlossen oder vertrieben wie die CEU, die unlängst aus Budapest vertrieben wurde.
Für die Ausbildung einer loyalen Beamtenelite wurde eigens eine Hochschule, die „Nationale Universität für Öffentlichen Dienst“ gegründet. Als solche enthält diese Universität eine privilegierte finanzielle Unterstützung, während die Dozenten anderer Universitäten in veralteten Gebäuden, mit veralteten Geräten für unwürdige Löhne arbeiten müssen.
Die Regierung hat die Internationalisierung der Hochschulbildung auf ihre Fahnen geschrieben. Gemeint ist damit jedoch nicht die Integration der ungarischen Hochschulen in den Europäischen Hochschulraum, sondern vornehmlich nur die Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu afrikanischen und asiatischen Ländern.
Wissenschaft
Das aktuelle Regime strebt auch in der Wissenschaftspolitik die Verstärkung der zentralen Lenkung und die Einschränkung der professionellen, institutionellen Autonomien an. In einem ersten Anlauf wurde das Forschungsnetzwerk der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zentralisiert, nachher erfolgte die Ausgliederung des Fonds für wissenschaftliche Forschung (OTKA), der Grundlagenforschung finanziert, in ein Regierungsamt.
Im Juni 2018 erschienen in der staatlich gelenkten Presse mehrere Angriffe auf die ForscherInnen bzw. Institute der Akademie. Kurz danach entzog die Regierung – die gültigen Gesetze ignorierend – zwei Drittel der gesetzlich vorgeschriebenen budgetären Unterstützung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, und ein Jahr später verstaatlichte sie das Netzwerk der Forschungsinstitutionen trotz des einhelligen Widerstands seitens der Akademie und des kräftigen Protests der ungarischen und internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Die staatlich getragenen Forschungsinstitute wurden einem Gremium untergeordnet, dessen Zusammensetzung für die Verwirklichung der Zwecke des Regimes haftet, womit die Autonomie der wissenschaftlichen Forschung erheblich verletzt wird. Dies läuft zugleich den im Grundgesetz Ungarn festgelegten Prinzipien zuwider. Die neue institutionelle Struktur sichert dem Regime einen unmittelbaren Zugang zu Quellen, die durch internationale Förderungsprogramme, allen voran durch das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont Europa“ bereitgestellt werden. In den Proklamationen seitens des Ministeriums zeichnet sich ein Plan ab, der die Einschränkung der Grundlagenforschung sowie die dezidierte Förderung der angewandten technischen und naturwissenschaftlichen Forschungen vorsieht. Das Regime setzt im Bereich der Geschichtswissenschaften neben der starken Kontrolle der Institute auch eine andere Methode ein: Zwecks Erarbeitung seiner eigenen Erinnerungspolitik gründete es eigene Forschungsinstitute und löste das Forschungsinstitut auf, das seiner Erinnerungspolitik entgegenstand. Der vermutliche Zweck dieser Maßnahmen dürfte darin bestehen, der offiziellen Geschichtsschreibung einen hegemonialen Status zu sichern und den Narrativen des Regimes über die ungarische Geschichte wissenschaftliche Legitimität zu verleihen.
Künste
Auch für das Gebiet der Künste ist es bezeichnend, dass die öffentlichen Gelder nach politischen Gesichtspunkten, ohne Transparenz und nicht selten unkontrollierbar verwendet werden, mit dem Ergebnis, dass eine außerordentliche Unausgeglichenheit die Verteilung der Ressourcen unter den verschiedenen Akteuren der Szene charakterisiert.
Die Regierung hat in den über die Kulturfinanzierung entscheidenden Gremien eine Zweidrittelmehrheit, nach dem der früher unabhängige Nationalfond für Kultur (Nemzeti Kulturális Alap – NKA) in das Ministerium für Humanressourcen (Emberi Erőforrások Minisztériuma – EMMI) eingegliedert wurde und die regierungsloyale Ungarische Akademie der Künste (Magyar Művészeti Akadémia – MMA) ein Drittel der Posten in allen zuständigen Gremien besetzt. Damit hat die MMA einen maßgeblichen Einfluss auf Kultur und Kunst, obwohl sie trotz der herausragenden staatlichen Unterstützung bis heute keine wahre kulturelle Autorität besitzt. In der Funktionsweise des NKA ist es eine beunruhigende Entwicklung, dass der Minister über einen immer größeren Teil der zur Verfügung stehenden Mittel – anfangs 15 %, nun 50 % – frei disponieren kann, dessen Verwendung keinerlei professionellen Kontrolle unterliegt.
Seit 2010 entscheiden Kuratorien, die mehrheitlich der Regierung loyal sind, über die Ernennung der Theaterdirektoren, nicht selten auf eine skandalöse Weise. Im Januar 2019 wurde das 2009 installierte System der Körperschaftsteuer (ung.: TAO) ausgeführt, das trotz ihrer Nachteile eine berechenbare Einnahmequelle für die Ensembles bedeutet hatte; das System wurde durch die zentrale Geldverteilung ersetzt, die auf politischen Präferenzen beruht. Dabei kommen vor allem die unabhängigen Theatergruppen zu kurz und begünstigt wird am ehesten das Nationaltheater, das seit 2013 politisch rechts steht und, nach seinen Einnahmen aus dem Kartenverkauf beurteilt, nicht sehr erfolgreich ist.
Auch für das Gebiet der Musik ist es charakteristisch, dass in der Verteilung der finanziellen Mittel den informellen Beziehungen eine immer größere Rolle zukommt und die Ernennung der Mitglieder von Kuratorien ohne Konsens erfolgt, deren Zusammensetzung keine Garantie für die professionelle Kontrolle darstellt.
Die Betriebskosten der Institutionen der klassischen Musik sind hoch, die Produktionen sind teuer, das private Mäzenatentum ist unterentwickelt, weshalb die Abhängigkeit vom Staat in diesem Bereich noch deutlicher ist als auf dem Gebiet der Literatur oder der bildenden Künste. Die starke materielle Abhängigkeit, die Unübersichtlichkeit des Förderungssystems und die handgesteuerten Entscheidungsmechanismen zwingen die Betroffenen zu politischer Loyalität, Antichambrieren und Lobbyismus. Die Regierung widmet viel Geld für die Musik und gibt bedeutende Summen für die Unterstützung der klassischen Musik aus, die Verteilung ist aber schwer kalkulierbar und willkürlich. Auch auf diesem Gebiet gibt es politisch ernannte Funktionsträger, deren Wirken oft umstritten ist. Andererseits wurde im musikalischen Leben die anderswo erfahrene Zerstörung und die „totale Invasion” nicht zur Regel. Dies kann wahrscheinlich dadurch erklärt werden, dass die meisten Gattungen der klassischen Musik kaum dafür geeignet sind, direkt politisch instrumentalisiert werden zu können.
Im literarischen Leben flossen mehrere Milliarden Forint zu zwei Institutionen, die von deklariert regierungsnahen Literaturmanagern geführt werden: Die eine ist die nach den bisherigen Versuchen eher erfolglose GmbH für Begabtenförderung im Karpatenbecken (Kárpát-medencei Tehetséggondozó Kft.) und das Petőfi Literaturmuseum, das in ein „Kraftzentrum für Literatur“ verwandelt werden sollte, unter dessen Schirmherrschaft die bisher unklar definierte Petőfi Literaturagentur ins Leben gerufen wird. Währenddessen wurde die Unterstützung für die nach der Wende entstandenen und der demokratischen Kultur verpflichteten literarischen Organisationen radikal zurückgeschnitten.
In den Bereichen der zeitgenössischen bildenden Kunst wird die politische Selektion nur unter Hand, aber umso effektiver durchgesetzt: Die Bedingungen der schöpferischen Arbeit sind mangels hinreichender Quellen, institutioneller Partner, Ausstellungsräume und Öffentlichkeit nicht gegeben, die Garantien für die künstlerische Freiheit verschwanden.
Die Regierung von Orbán zentralisierte auch die Verteilung der öffentlichen Gelder für die Filmproduktion: Die früher als gesellschaftlich-professionelle Organisation aktive öffentliche Stiftung wurde durch den vom Regierungsbeauftragten Andy Vajna geführten Nationalfond für Film (Nemzeti Filmalap) ersetzt. Nichtsdestotrotz wurde die Filmfinanzierung weniger als erwartet durch die Regierungspolitik beeinflusst, die von Vajna aufgestellten Auswahlkriterien erwiesen sich als wirksam und brachten den Aufschwung der ungarischen Filmproduktion mit sich. Es kommt jedoch der Verdacht auf, dass durch die Person und den Einfluss Andy Vajnas die amerikanische Filmhegemonie in Ungarn zunahm, und seine Praxis manchmal den Empfehlungen des Europarates für nationale Filmpolitik ausdrücklich widerspricht. Für die Zukunft scheint es eher trübe Aussicht zu sein, dass nach dem Tod von Vajna die angesehenen Fachleute aus dem Vorstand des Nationalfonds für Film verschwunden sind, an ihre Stelle wurden fachlich bedeutungslose Mitglieder ernannt.
Kulturelles Erbe
Die Museologen haben nicht einmal Möglichkeit, ihre Ansichten über den Zustand und die Förderungstendenzen der einzelnen Institutionen und des ganzen institutionellen Netzwerks den Entscheidungsträgern mitzuteilen, da es kein Ministerium für Kulturwesen gibt, sondern die Angelegenheiten zu verschiedenen Staatssekretäriaten, Hauptabteilungen usw. des unübersichtlichen Ministerium für Humanressourcen [EMMI] angehören. Das Museumsgesetz aus dem Jahr 2013 schreibt keine fachspezifische Ausbildung für die Museumsdirektoren vor. Die Museumsdirektoren werden von den politisch oder ökonomisch führenden Kreisen der Region oder des Landes ernannt. In der Leitung der Museen werden den fachlich begründeten Gesichtspunkten politisch-repräsentative oder touristisch-geschäftliche Aspekte vorgezogen. Das Gesetz von 2013 hat die Organisation der Museen auf Komitatsebene aufgelöst (die die kleineren Museen des Komitats einem zentralen Museum unterordnete), die Museen wurden unter die Leitung der Städte gestellt. Der Staat hat das Eigentumsrecht der Sammlungen und der Immobilien – außer der Museen der Komitatszentren – entwendet. Die örtlichen Instanzen schlossen Teile der Sammlungen, wobei sie sich auf die Entwicklung der Immobilien beriefen (so wurden z.B. auf dem Gebiet des Freilichtmuseums in Zalaegerszeg die Häuser der finnougrischen Völker und die Teile, die ihr alltägliche Leben vorstellten, geschlossen). Die Regierung gründet neue Museen, ohne die Zuständigen zu befragen, entscheidet über den Umzug von Sammlungen im Interesse ihrer eigenen politischen Ziele, bzw. um die materiellen Interessen der einflussreichen Parteileute oder Unternehmer zu bedienen. Die Museen auf dem Lande siechen dahin, die Forschungsarbeit wird vollkommen vernachlässigt. Die Museen sind unterfinanziert, das Einstiegsgehalt von Fachleuten mit Universitätsabschluss entspricht dem Existenzminimum, wobei die Quantität der zu leistenden Arbeit pro Person irreal hoch ist.
Die Grundaufgabe der Széchényi-Nationalbibliothek [Országos Széchényi Könyvtár] ist die Sammlung und Bewahrung schriftlicher Dokumente des ungarischen kulturellen Erbes. Dieser Aufgabe kann die Institution wegen ihrer Unterfinanzierung nicht genüge tun. Das offizielle Budget für Neuerwerbungen ist seit 2006 null (das heißt 0) Forint. Ihr jährliches Budget wird seit sechs Jahren auch nominell betrachtet immer geringer, sie hat 700.000.000 Forint Sollbestand an die Stadtwerke. Die Bibliothek kann nicht einmal das gesetzlich vorgeschriebene Gehalt für ihre Mitarbeiter sichern. Die totale Räumung der Széchényi-Nationalbibliothek aus dem Burgschloss von Buda ist Teil der symbolischen Politik der Regierung: Die kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen werden aus dem Burgviertel entfernt, damit die Regierungsämter ihren Platz einnehmen können. Das Errichten eines neuen Gebäudes für die Nationalbibliothek wäre allerdings absolut begründbar. Die Széchényi-Nationalbibliothek kann ihre Aufgabe an ihrem jetzigen Ort nicht erfüllen, ihre Depots sind überfüllt. Statt ein zeitgemäßes Bibliotheksgebäude zu errichten, denkt die Regierung an eine billigere Lösung, an den Umzug der Bibliotheksbestände. Das ist aber kein gangbarer Weg, die in der Presse planlos erwähnten Gebäude (z.B. eine ehemalige Kaserne) sind für eine Nationalbibliothek nicht geeignet.
Die zentrale Institution des Denkmalschutzes, die seit 1872 ohne Unterbrechung existierte, wurde 2012 aufgelöst. Die Organisation und die Professionalität des Denkmalschutzes wurden mit den meistens ad hoc beschlossenen, unüberlegten und konzeptionslosen Entscheidungen und den oft chaotischen Umstrukturierungen seit 2010 gänzlich abgebaut, professionelle Entscheidungen, die dem politischen Willen widersprechen, können nicht gefällt werden. Auf staatlicher Ebene und von einer ungeheuren Propagandamaschinerie unterstützt laufen nur einige Einzelprojekte, diese sind vor allem sehr teure und vollkommen sinnlose Rekonstruktionen einiger längst verwüsteter Gebäude, die ein falsches Nationalbewusstsein fördern, was man nicht als die eigentliche Aufgabe des Denkmalschutzes betrachten kann. Der Denkmalschutz als staatliche Institution existiert in Ungarn nicht mehr.
Medien
Nachdem 2010 die Partei Fidesz an die Regierung gekommen ist, hat sie sich mit öffentlichen Geldern ein umfangreiches Medienimperium aufgebaut. Inzwischen deckt dieses Imperium 75% des politisch relevanten öffentlichen Medienmarktes ab. Die jährlichen Ausgaben für Regierungswerbung, die sich auf Hunderte Milliarden Forint belaufen, kommen ausschließlich den regierungsnahen Medien zugute. Aber auch unabhängige Wirtschaftsunternehmen, sowohl die ungarischen als auch die multinationalen Firmen, investieren ihre Werbegelder unter politischem Druck fast ausschließlich nur in regierungstreue Medien. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die wenigen noch übriggebliebenen unabhängigen Medienorgane. Sie müssen versuchen, fast gänzlich ohne Werbeeinnahmen zu überleben.
Die mit öffentlichen Geldern finanzierten Medien wurden zum Instrument der Regierungspropaganda ausgebaut. Sie erfüllen den seriösen und neutralen Informationsauftrag öffentlich-rechtlicher Medien nicht einmal in dem mindesten Maße, indem sie stets einseitig, voreingenommen und nur im Sinne der Parteilinie berichten. Öffentlichkeitsrelevante Ereignisse werden regelmäßig verschwiegen oder falsch bzw. irreführend dargestellt. Das enorme Ausmaß von Falschmeldungen lässt keinen Zweifel daran, dass diese bewusst gesteuert werden, um die Öffentlichkeit zu manipulieren und in die Irre zu führen.
Die Regierungspartei, die den großen Teil des Medienmarktes direkt oder indirekt kontrolliert, strebt an, die ihr unliebsamen Medienorgane mit objektiver und ausgewogener Berichterstattung aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Den Markt sollen stattdessen die Boulevardmedien beherrschen, deren emotionalisierende und stark vereinfachende Darstellung bestens dazu geeignet ist, Ängste zu schüren und folglich Propagandalügen der Regierung zu verbreiten.
Nach unserer Bestandsaufnahme hat die Politik der Orbán-Regierung im letzten Jahrzehnt Ungarn auf dem Gebiet der Wissensproduktion und des Wissenstransfers, bei der Kulturschaffung und der Erhaltung des kulturellen Erbes um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen. Die wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen des Landes sowie deren Mitarbeiter haben enorme Verluste erlitten. Nach 10 Jahren ist ihre Widerstandskraft allmählich erschöpft.
Orbáns System der illiberalen Demokratie maskiert sich als eine christliche Gesellschaft, zeigt sich jedoch zutiefst unchristlich und inhuman, wenn es um Solidarität und Hilfe für Menschen in Not geht. Dieses System hat sich von den Werten der Humanität und der modernen Zivilisation verabschiedet und Europa endgültig den Rücken zugekehrt.
Die Geschehnisse in Ungarn haben eine exemplarische Bedeutung. Sie zeigen als warnendes Beispiel, welche verheerende Folgen es in Europa heute noch haben kann, wenn populistische Kräfte an die Regierungsmacht kommen und dann die Gewaltenteilung nach und nach aushebeln, sich des gesamten öffentlichen Lebens bemächtigen und wissenschaftliche bzw. kulturelle Institutionen systematisch für die eigenen Zwecke instrumentalisieren.